Das flüssige Land

Das flüssige Land

Rezension als Literaturrezeption zu "Das flüssige Land" von Raphaela Edelbauer

Vorwort
"Das flüssige Land" von Raphaela Edelbauer ist das fesselndste Buch, das mir in den ersten 40 Jahren meines Lebens untergekommen ist. Groß-Einland, der fiktionale Schauplatz im Roman, scheint mir bereits zu Beginn weit realer, als er als ein raumzeit-synchroner Phantasieort auch gedacht sein mag. Die angedeutete Parallel-Lokation im Kamptal (die 1000-jährige Eiche am Manhartsberg wie das Gasthaus zum Kürbis, semi-verortet in der Buckligen Welt) könnte passender nicht sein. Die Schneise durch den Wald als unwegsamer Pfad in eine gleichzeitige Vergangenheit durchbricht - im wahrsten Sinne des Wortes - dann plötzlich (jedenfalls mir) doch irgendwie vertraut, alles auf die Zukunft Gerichtete, in der Gegenwart nicht sein Könnende um in eine absolut dynamische Gegenwart.

Die dem Menschen des westlichen Abendlandes anerzogene wie kulturell vertraute Vierdimensionalität wandelt sich zu einem Zeitkontinuum einer immerwährenden (Aufrechterhaltung) der Gegenwart und dem Kampf gegen einen Un-Ort (das kollektive Unbewußte, das Unpäßliches zudecken will - das Loch -, aber indes auch keine wirkliche Schöpfungskraft an den Tag legen will (das Lehensmodell der Gräfin und die Rollen, mit denen sich alle wie selbstverständlich abgefunden haben), also individuelle wie kollektive Leere, geschickt zugedeckt durch den immerwährenden Alltag wie auch die gemeinhin als gegeben hingenommenen Umstände (das direkt vor Augen raumgreifende Sich-Verändern der Landschaft).

Mehr noch, meines Erachtens geht es nicht "bloß" um den Raubbau an der Natur, der sich physisch zeigt, sich im Zerbröseln und Verschlucken rächt, als unausweichliche Konsequenz der wahnhaften Ausbeutung der Bodenschätze, beginnend mit dem Pergerhannes (erinnert mich an Peter Simonischek in "Tief Oben") hin zu einer noch viel dünkler werdenden Historie dieses (gar nicht so fiktionalen) österreichischen Dorfes, die nicht bloß auf Epochen aus Österreichs gesellschaftssystemischer und zeitgeschichtlicher Vergangenheit Bezug nimmt (Feudalsystem an der Schwelle zur Neuzeit, K&K-Monarchie und greißlerische Biedermeierlichkeit - wohl als Schockreaktion auf Greuel aus der NS-Zeit wieder-installiert?)

 

Vom Schrauben in die nadelige Unergrünlichkeit
"Und ich schraubte mich immer tiefer in die angeschwärzte Kulisse (...)", und weiter: "Erst als mächtig der steinerne Paravent des Semmerings vor mir auftauchte, vollzog sich ein Wechsel. Ein Abtauchen wie unter eine Decke. Nadelige Unergrünlichkeit dampfte mir ätherisch ins Hirn;" (S. 11f.)
Phantastisch-anschaulich startet die Suche nach dem unbekannten Ort "Groß-Einland", von dem die theoretische Physikerin Ruth bereits wußte, sie würde ihre Habilitationsschrift aufgeben - zugunsten eines dreijährigen Aufenthalt an dieser parallelen Lokation eines in der ewigen Gegenwart gestrandeten, historisierend nachgebildeten altösterreichischen Dorfes. Sie macht sich, kontinuierlich geplagt von nicht näher definierten psychischen Beeinträchtigungen (gemutmaßt Depression) auf die Suche nach einem Ort, welchen ihre unter mysteriösen Umständen verunfallten Eltern (rotes Auto) regelmäßig besucht hatten: "Je alpiner die Umgebung wurde, (...) [D]as ganze Land stieg unter mir auf; ich befuhr die Wellenzüge einer flüssigen Masse." (S.13)

Plastisch die Sprache, zugleich immersiv, stets konkret und bisweilen additiv-assoziativ, nicht minder kontrapunktisch:
"Vor einem Reisenden, der von Wien kommend den Bergpass zur Steiermark überqueren will, fächert sich das Wechselgebiet auf - eine von Untergipfeln zerfurchte Mondlandschaft. Schief hängende Gesteinsflächen ragen auf uns fallen in Klammen zurück, in denen Alpenbäche sich im Laufe der Jahrmillionen tief in die Landschaft gefräst haben. Pyrithalden, eigentümlich glänzend, münden in weiche Almflächen" (S.19).
Dann wieder dialektisch-parallel:
"Über die Gebirgskämme donnerte der Winddruck in kräftigen, unsteten Schüben (...) - sich aneinander reibende Wolkenfelder, aus denen jeden Augenblick etwas niederzugehen droht -" (S.20f.)

 

Die wurstfingrige Wirtshäuslichkeit
"Man saß neben denselben rotgesichtigen Trunkenbolden, die ihre wurstfingrigen Fäuste donnernd auf Holzplatten niedergehen ließen, während man aus den immer in der nämlichen Art geschwungenen Weingläsern den vollständig kongruenten Wein, also Zweigelt und Veltliner trank, wonach sie in einem staatlichen Synchronballett die Schnapsflaschen tief in die Gläser neigten." (S. 29f.)

Die wirtshäusliche Szenerie beschreibt m.E. sehr treffend Örtlichkeiten wie Publikum in den Gastwirtschaften in der Peripherie diverser Sommerfrische-Gegenden, welche sich als Rast- wie Plauderstätten - ganz und gar 100 Jahre zeitfrei - ins 21. Jahrhundert hinübergerettet haben. Die Räumlichkeiten dieselben, wie zum Teil die Möblage, selbst bei den Charakteren der Stammgästen scheint ein generationsübergreifendes morphogenetisches Feld am Werk, als sähen Urgroßvater, Vater respektive Mutter wie Enkelin einander zum Verwechseln ähnlich. Eine (Sitten-)Bild der Klonung durch Vervielfältigung im stets regionalen super-familialen Bezugsbereich.
Dann, etwas später, wird die nicht-alltägliche Lokalisierung der Protagonistin, klar, aber nicht eineindeutig. Es wirkt so, als fände die Geschichte nicht nur überlagert-enthoben sondern auch bi-lokalisiert statt (Tal wie Anhöhe Manhartsberg respektive Trattenbach in der Buckligen Welt):

"Ich fuhr an diesem Tag weit hinaus, an Mariensee vorbei und hinunter ins Kamptal, zu einem Steinbruch, einer Nutstelle des Landes, wo sich die Kontinentalplatte erschrocken von sich selbst losgesagt hatte. Hier endlich schien mir der geeignete Ort zu sein. (...) Obwohl mich fröstelte, fuhr ich die Strecke, die ich mir morgens vorgenommen hatte, eisern zu Ende. (...) Ich durchquerte eine Ortschaft namens Puchsberg, da stach mir ein Wegweiser ins Auge: Ich bremste reflexhaft, stellte den Wagen am Wegesrand ab und ging zu Fuß näher an das handgeschnitzte, an einem Baum aufgehängte Schild, um meinen ersten Eindruck zu bestätigen: GASTHOF ZUR TAUSENDJÄHRIGEN EICHE." (S.30ff.)


Die Physikerin und der Maskenhändler
"Unsere Augen trafen sich für eine schneidende Sekunde. (...) Obwohl er keine weiteren Fragen stellte, sprach ich weiter." (S.33f.)
Ruth, ihres Zeichens theoretische Physikerin aus Wien, erklärt ihrem Tischgefährten die Blockuniversumstheorie: "Wenn die Zeit irreal ist, wie wir wissen, sind Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft eigentlich gleichzeitig vorhanden. Ähnlich einem dreidimensionalen Block lassen sich die vermeintlich aufeinanderfolgenden Momente lesen als nahe aneinanderliegend. Das heißt, die Zeit wird eher zu einer Raumrichtung als zu etwas, das die Dinge je verändern würde. Es ist kompliziert."
Ihr Gesprächspartner, der als Maskenhändler auftritt, repliziert wie folgt: "Geistige und körperliche Welt verbinden sich in einer ewigen Schöpfungsgegenwart, der Traumzeit, zu einem Ort, an dem wir mit unseren Vorfahren in Kontakt treten können. Die Ahnen beeinflussen durch ihre Handlungen unsere Welt, und wir wiederum können die Traumzeit durch das verändern, was wir tun." (Möglicherweise bezieht sich die Autorin hier auf die Daseinsgenese ~~ den zeitgenössischen Menschen mit all seinen Lebensumständen, also ein individuelles Menschsein in einem allumfassenden Einheitsbewußtsein. - Anm. d. Verf.)

Man findet inhaltlich in weiterer Folge zueinander: " 'Ich verstehe, worauf Sie hinauswollen', (...) 'Es gibt also ganz ähnlich wie in Ihrer Theorie ein kosmisches Netz, das eine Topographie an die Zeit bindet, nur dass es eben bei den Aborigines die ganz eigentliche Landschaft ist, die das vollbringt." Darauf der Maskenhändler: "Aber was die meisten Menschen an der Traumzeit nicht begreifen wollen, (...) [d]ass um uns herum die Landschaft gerade so fließt wie unsere Wahrnehmung - alles aus einem Guss." Und weiter: "Somit wird die ganze Welt eigentlich Metapher. Sie sind Metapher und ich in unserer gesamten Leiblichkeit." (S. 39)

An dieser Stelle beschreibt Autorin wieder einen Überraschungsmoment: Eine situative paradoxe Intervention des Maskenhändlers holt Ruth aus dem Raumzeitgeflecht scheinbar wieder heraus: " 'In einem entsprechend aufgeladenen Kontext wie diesem (...) [v]ielleicht wissen Sie es ja selbst noch nicht. Deswegen möchte ich Ihnen etwas anbieten. Und zwar' (...) 'einige wunderschöne Masken aus meinem Sortiment.' "
Die nun folgende Wende-Pointe hat mich - wie vieles andere - beim Lesen begeistert: "Mit einem Mal war die Spannung [sic!] gebrochen. Die ganze philosophische Verheißung war nur ein Präludium zu einem Verkaufsgespräch gewesen. In wenigen Sekunden war der Tisch mit Masken geradezu tapeziert. (...)" (S.41f.)

 

Das abhanden gekommene Mädchen
Ob das Mädchen, das in Groß-Einland vom Land unterirdisch spurlos in Empfang genommen wurde, "wie man erzählt", eine literarisch-narrative Verdopplung ist (auch die Protagonistin Ruth verschwindet aus Wien wie Trattenbach der 2010er Jahre, nachdem sie zuvor in antidepressive Psychopharmaka geflüchtet ist), mag sich auch beim dritten Lesen nicht aufklaren. (Wie jede gute Geschichte in Teilen an der Wirklichkeit - gibt es so etwas überhaupt?! - partizipiert, so bleiben nach der Lektüre des Werkes, die immer neue Facetten zu Tage fördert (im wahrsten Sinne des Wortes) doch manche Rätsel ungelöst. (Mir, dem Verfasser dieser Rezension von "Das flüssige Land", gruselt, da es hierorts auch entsprechende [tradierte] Geschichte gibt - mit einem Mädchen und einem Brunnenschacht.)

Letztlich mag die Autorin im Buch ein sprachlich-metaphorisches (gemeint ist hier: wortübergreifendes) Anagramm formuliert haben, das zugleich als fokussierte Einsicht der Protagonistin wie folgt in Worte gefaßt ist: "Es gehört zu den merkwürdigsten Facetten des Lebens, wie sich in uns das, was zuvor als die selbstverständlichste aller Handlungen erschien, einer unsichtbaren, plötzlichen Drift unterliegend, veschiebt." (S.43)
 

Der Bürgermeister
" 'Servus Bürgermeister', sagten die Leute, und er nickte alle mit derselben Geste ab, (...) mit speckigen Hirschgeweihknöpfen, die am feisten Bauch aufzuplatzen drohten, aber eingedenk der Mittelmäßigkeit seiner gesamten Existenz sogar das noch unterließen. (...) 'Ein schönes Fest', sagte er sofort, und ich roch seine Fahne. Es war ein merkwürdiger Anblick, der aus der Nähe betrachtet vollends unverständlich wurde: Seine Hände winkten überschwänglich allen zu, doch sein Gesicht strahlte dabei eine solche Verzweiflung aus, wie ich sie noch nie gesehen hatte. (...) Tatsächlich schien er so entkräftet, dass er kurz vorm Einschlafen war."
Nach der sehr pointierten Beschreibung vieler 60-plus Bürgermeister von Klein(st)gemeinden "am Land", setzt die Autorin nach, läßt den Bürgermeister, der seinerseits von der Gräfin [halb-direkte Metapher für: politische Seilschaften, Ortskaiser, (erz)konservative Landesregierungen u.dgl.] abhängig ist, selbst seine einer Staffage gleichende Funktion weiter erläutern: " 'Das bringt das Amt so mit sich.' " Um sogleich Thema zu wechseln: " 'Wir zwei haben uns ja leider noch nicht wirklich unterhalten, aber ich habe deine Eltern gut gekannt.' " Die Protagonistin Ruth präzisiert nun: "Meine Eltern hatten mit ihm gegessen - mit einem opportunistischen, langweiligen Menschen, der über seiner Einbrenn [i.w.F. möglicherweise ebenso referenzierend: Parteiprogramm; Gewohnheitsriten] hing, wie ein feuchter Lappen." (S. 225f.)
 

Die Gräfin
"An einem langen Prunktisch waren die Namenskärtchen für jeden Gast aufgestellt, doch während alle anderen mit magnetischer Sicherheit ihre Stühle fanden, war ich wie ein ziellos flatterndes Insekt am Suchen." Die Gräfin: " 'Frau Schwarz, der Bürgermeister ist nicht Teil unserer Geschäftlichkeiten', sagte die Gräfin ruhig. "Sehen Sie, in dieser Gemeinde gibt es, ebenso wie in einem Staat als Ganzen, zwei Körperschaften, die voneinander getrennt agieren." Nun folgend, auch als Anspielung auf den österreichischen (Altadels-)Stand der Besitzenden: " ' Da ist die alte Ordnung, wie wir sie hier praktizieren, und dann die neue, die an einem gewissen Stichpunkt einfach über die erste gebreitet wurde, ohne auf die gewachsenen, organischen Strukturen Rücksicht zu nehmen. ' " (S.118f.)

Ein sich in der zeitlosen Wandellandschaft widerspiegelnder, unprophetischer Wesenszug, nicht ganz unähnlich dem Wesen des Loches. Statistiken wurden geschönt, Veränderungen herausgerechnet, gleich einer Trias eines Wegdenkens, -sprechens und -handelns des Unausweichlichen. Eine scheinbare Transformation der Bedrohung durch ko-kreative Erschaffung einer asymptotischen, handlungsbefreiten Raumgegenwart der Verleugnung.
Ein Nicht-Wahrhabenwollen des Lochs, anstatt es als fatale Folge menschlich-materieller Ausbeutung sehenden Auges zu akzeptieren. Als das nachtschwarze Loch, das unterirdisch nichtet, wird es während des unaufhaltbaren Fäulnisprozesses ober Tage oberflächlich sublimiert. (Hier sei auch auf das Groß-Einland der Jetztzeit im Narrativ verwiesen als Nachbau der mittelalterlichen Stadt in Form einer So-als-ob-Kulisse des nicht Wiederbringlichen.)


Das raumgreifende Nichts
"Das, was dieses Gefühl des Angekommenseins jedoch zuletzt vollendete, war das Haus. (...) Es war ein wunderschönes altes Gebäude mit Fachwerksgiebeln, einem geschnitzten Balkon und einem nach hinten sich verlaufenden Garten mit Tannen und Walnussbäumen. (...) Ein Haus zu besitzen, ein sogenanntes Zuhause - die Idee stieg mir wie ein betörender Duft ins Hirn" (S. 139)

Ruth hatte sich sofort in dieses Haus verliebt: "Das Haus war von umwerfender Schönheit. Es hatte sieben Zimmer auf zwei Etagen - eine herrliche hölzerne Treppe nach oben, Fischgrätparkett aus Nussholz (das von den Bäumen im Garten stammte, wie mir der Makler versicherte), helle Jugendstilfenster und einen Dachboden, der wie ein ehemaliger Viehstall aussah. (...) [Es] war das Haus mitsamt dem gesamten Mobiliar zu verkaufen: einer kleinen von Klassikern aufgeladenen Bibliothek, einer schönen, französischen Küche und einem großen Doppelbett im oberen Stockwerk, von dem man aus durch ein Dachfenster den Himmel sehen konnte.“ (S. 141)

Doch bald sollte die Physikerin Ruth auf den Boden der Tatsachen geholt werden, zumindest konnte sie in schweißtreibender Gedanken- wie Experimentierarbeit dem Nichtenden in der Ortschaft, das ubiquitär als "schmatzendes Erdreich" auftrat, entgegen wirken: Vom Schreibtisch aus, dem "Zentralgestirn des Arbeitszimmers" aus, blickte sie auf "[e]ine schwarze Tafel" und "mithilfe einer verschiebbaren Leiter [konnte man] kreuz und quer Formeln auf ihr verteilen [, lud doch] eine Chaiselongue auf der anderen Seite (...) dazu ein, das Geschriebene danach zu betrachten." (ebd.)

Die Gräfin hatte sie, Ruth Schwarz, beauftragt, ein Füllmittel zu (er)finden, denn "man konnte die Fuchtigkeit des Bodens, der sich schmatzend unter den Schuhsohlen aufzulösen begann, zum Zeichen der Fruchtbarkeit verklären - oder rezente Einbrüche als gutes Omen etablieren, da sich nun die gesamte Gemeinde sich immerhin einem gemeinsamen Höhenniveau näherte. Der Terminus Streckung bezog sich auf die Streckung der Worte: das subtile Aufberechen von Bedeutungszusammenhängen." (S. 175)
Konkret formuliert die Autorin das in den Worten ihrer Protagonistin:
"Hierbei wurden gewisse Fakten einer sogenannten Umwertung unterzogen, die sowohl landschaftsplanerisch, physikalisch, aber durchaus auch moralisch, in manchen Fällen sogar spirituell sein konnte. Dabei ging es darum, unabänderliche Daten durch erfundene Vorteile in ein positives Licht zu rücken" (ebd.)


Der wahnhafte Pergerhannes
Mit dem Hauserwerb schließlich stieß die Protagonistin dann auf den von Mythen umrankten Pergerhannes, die "Gründerfigur des Dorfes". Pergerhannes, der Ende des 16. Jahrhunderts als wahnhafter Schatzsucher, selbstüberschätzender Prophet und kechtgeißelnder Ausbeuter auftrat - als solcher ein dem Einbrechen geweihtes Stollensystem vorantreiben ließ, ohne Rücksicht auf Menschenleben wie Statik des geologischen Untergrundes - sollte schließlich wenige Jahrzehnte später dann für immer im Bergwerk verschwinden:

"Sehr plötzlich erzählt man sich im März 1632 im Dorf, dass Hans Perger verschwunden sei, das heißt: nicht verschwunden im eigentlichen Sinne, denn es ist eine allgemein anerkannte Gewissheit, dass Pergerhanns in der tiefsten Schlucht seiner Grube den Teufel getroffen hat." Seine Arbeiter, die er zuvor noch weggescheucht hat, im Wahn, auf der endgültigen Spur nach Silbererzen zu sein, "sammeln sich, als er nach einigen Stunden nicht zurückkommt, am westlichen Stollenausgang und warten auf die Wiederkehr ihres Meisters - viele sind nach Wochen zum ersten Mal in der Sonne und müssen sich stundenlang die Handteller über die Augen breiten, ehe sie die Natur Groß-Einlands wieder erkennen und zu ihren Familien heimkehren." (S.153)
 

Die Metaphysis des nichtenden Nichts
"Das erste Rätsel war das der Stollensysteme und jener Ereignisse, die in ihnen unter der Oberfläche lagen. pflichtbewusst gestopft wurden. (...) [Es] war ein Prozess, von Monaten, denn man hatte die Leerstellen ja pflichtbewusst gestopft." Dies scheint mir eine generalisierbare Eigenheit der Sozialisationsgenese des kollektiven geistigen Verdrängungsgehabes in Österreich zu sein. Daher auch: "Der Körper des Rätsels war jene Geschichte (...) Im Grunde war das ja nichts Besonderes in Österreich, - dass die Verbrechen im Nationalsozialismus sorgsam überdeckt worden waren und dann eben doch herauskamen." (S. 188)

Das Loch ist also in mehrfacher Weise Metapher:
"Der Druck des Wassers musste deswegen nach unten entweichen, eine Schicht tiefer, und (...) um den 2. November herum, als tief unter dem Hauptplatz (...) eine in Bergwerkszeiten zu dünn ausgegrabene Steinwand brach."
Die Autorin bedient sich einer nüchternen, indes plastischen Sprache: "Der Riss, der halbschräg vom Friedhof zum Hauptplatz reichte, führte nicht unmittelbar zum Einsturz des Bereiches, da die Gesteinsschichten noch aufeinander lagen. (...) [Das] Wasser [konnte] nun endlich in eine Ritze einlaufen, und [brachte] den Fels selbst durch eine Drucksteigerung in Bedrängnis (...). Die Faserverbindungen, die sich im Laufe von Jahrmillionen gebildet hatten, rissen ab - die seit dem Mesozikum stabile Basis des Berges wurde aufgeschwmmt wie ein Ödem." (S. 233)

Ruth, die Protagonistin, werkt gewissenhaft und in Immersion:
"Ich hatte mich für die Arbeit, die ich für die Gräfin verrichtete, mit beängstigender Geschwindigkeit in die Lithologie eingearbeitet und begann nach drei oder vier Monaten die physikalischen Eigenschaften der Sedimente zu lesen wie die Morgenzeitung. Wir hatten, weil wir bohrlochgeophysikalisch arbeiteten, also unsere Informationen durch dünne Ösen zogen, die wir zuerst einstemmen mussten, nur Daten aus indirekten Messungen zur Verfügung." (S.192f.) Ruth erhält ein Bild des "lebensfeindlichen Terrains": "An manchen Orten war überhaupt kein Stein, (...) vielleicht tonnenweise Holz (...) Ich saß ratlos vor den dicht wuchernden Linien der Sonografen." (S.193)
 

Die Prozession und der entzwei brechende Kirchturm
"Der Pfarrer verneinte. (...) [U]nd so setzte sich der murrende Zug in Bewegung. (...) Die verschieden aufgelegten Luftschichten des Unwetters trugen das (...)Lied (...) nach allen Seiten auseinander. (...) Eine zerzauste Melodie lag (...) über der ganzen Stadt, und weil sie so ausgefranst war, wunderte man sich allerorts, was das für ein Geräusch war - welcher eigenartige Klangteppich aus Kinderstimmen und Wetterjaulen da ums Haus strich."
Eine gewisse semantisch-gesellschafts-zeit"historische" Parallele zur aktuellen Corona-Krise und einer Prozessionsleitung durch die Politik kann der Leser bei der Lektüre des Textes nicht von der Hand weisen:
"[E]s habe gklungen wie zerstörte Schallplatten, denn die Kinder seien in die Regenhäute gepackt gewesen wie eingeschweißtes Gemüse." Und, noch konkreter: "Unmöglich für die Töne, aus den Plastiksäcken zu entkommen: Sie habe sich gewundert, dass die Schüler überhaupt Luft bekamen."

Dann ereignete sich als Präludium der Climax des Unausweichlichen doch überfordernd überraschend folgendes:
"Indessen hatten die Kinder im Uhrzeigersinn durch die Innenstadt hinweg ihren Bestimmungsort erreicht, (...) [es] verfolgten sechzig Volksschüler (...) wie Hans Bretschneider als Heiliger seinen Mantel in zwei Teile hieb und vom Pferd herab einem als Bettler zurechtgemachten Schauspieler zuwarf."

Um in infernales Chaos überzuschwappen: "Bretschneider stieg herab, um sich den Boden näher anzuschauen (...) Einer nach dem anderen waren die Steine aus der Befestigung gesprungen, als hätte eine gewaltige Hand im Untergrund an einem Reißverschluß gezogen, der die Stadt gerade noch zusammenhielt. (...) Nur einen Augenblick später wurde ein ohrenbetäubender Knall laut, gefolgt von einem Rauschen, das hunderte Menschen zugleich zusammenfahren ließ." (S.248ff.)

Und, in auspizienhafter Manier, erwischt es den Kirchturm als epizentralen Ort des Geschehnisses: "Es war der Kirchplatz (...) An einer gleichmäßig den Stein durchtrennenden Nut war der Kirchturm gebrochen." (ebd.)
 

Beim dritten Lesen
Raphaela Edelbauers "Das flüssige Land" ist weit zu vielschichtig, um seine ganzheitliche Wirkung gebührend in Worte fassen zu können.

Einige unaufgelöst bleibende Passagen finden sich ebenso im Buch, wie diese recht seltsam anmutende - wiedermal zum Thema "Aufbrechen von Bedeutungszusammenhängen" - gleich einem morphogenetischen Feld:

"Verwirrt und ziellos stand ich daneben, als der Stallknecht das Tier in seine Box räumte. Ich ging in meinen seltsam steifen Reithosen im Wiegeschritt der Gräfin nach zum Schloss und die Stiegen hoch, wo Anita [die Bibliothekarin] vor der Tür wartete.
'Der Herr sitzt schon am Tisch, ich habe ihm Kaffee gemacht.' Die Gräfin verschwand in ihrem Büro - und während sie die Türe schloss, sah ich im Vorbeigehen noch für einen Augenblick ins Zimmer. Da saß, über seine Tasse zu mir grinsend, als hätte er mich genau an dieser Stelle erwartet, der Maskenhändler." (S.220)

"Wenn zwei Thematiken sich verzahnen und ihre gegeneinander beweglichen Teile passgenau ineinandergreifen, kommen beide in Bewegung. (...) Das erscheint wie eine glückliche Fügung, weil man eines am Gang des anderen bemessen zu können meint." (S.190f.)
Hier reflektiert Ruth über ihre Symbiose mit Groß-Einland als Ort des kollektiven (Nicht-)Vergessens und ihre In-Relation-Stellung des Ablebens ihrer verunfallten Eltern mit ebendiesem historisierten Raum in einer Parallelgegenwart (vgl. Genese von Hofnamen auf S. 90): "Um die Rätsel zu begreifen, hätte ich diese Zahnräder vielmehr voneinander lösen müssen."

An Engagement, Hingabe und Naturverbundenheit mangelt es der von Edelbauer in mannigfaltiger Weise im Detail sich erklärenden Physikerin Ruth jedenfalls nicht: "An anderen fühlte ich das Begehren als einen analytischen Wissensdurst, borgte aus der Bibliothek einen Naturführer aus und kategorisierte die Pflanzen und Käfer, bis es dunkel wurde oder mein Codein in seiner Wirkung abflachte." (S.114).

Besonders symbolhaft sprachlich in Worte gefaßt läßt Edelbauer Ruth hier weiter anschließen: "Selbst die Tannenzapfen schienen mir ein ureigener Ausdruck einer tiefen Wahrheit zu sein, die in einer harten, knotigen Sprache vom Boden aus verstanden werden musste. Mich verbanden keine Gemeinsamkeiten mit den Menschen in Groß-Einland [etwa den Festplanungen, um den Untergang des Ortes zur Show zu verklären, auch in Form subterraner Attraktionen, Anm.d.Verf.] - ganz im Gegenteil -, stattdessen begann ich, in die Natur um die Gemeinde einzuschmelzen. (...) [Es] war mir der Wald eine Erweiterung meines eigenen Körpers geworden, (...) es war lange gesuchte Zugehörigkeit.": Die Natur und ihr Begreifen als hybrider Sehnsuchtsort.

Das Fest, das das wohl subkutan persistierende Unbehagen der Gemeinschaftsgesellschaft der Groß-Einländer*innen, ein für alle Mal in sein positives Gegenteil verkehren sollte, welche Folgen und Effekte es nach sich ziehen sollte, neben der großvoluminösen Einspritzung des "Anti-Organicums" als Füllmittel in das Loch, sollte dann ohne Ruths Ansprache und Erklärung stattfinden, sie überläßt nämlich die weitere Ausgestaltung des Schicksals von Groß-Einland seinen Inwohner*innen: "Die Dispersion von Menschenpartikeln drängte nach und nach in die Stadt und fügte sich in jeden Ritze [sic!], jede Straße, jede Aussparung ein, bis alles so ausgefüllt war, wie es das Loch bald sein würde." Und weiter: "Die Masse teilte sich an der Schneise der Hauptattraktionen wie an hydrophoben Oberflächen." (S.335)
 

Schlußworte
Letztlich sei hier noch Wesentliches plaziert: "Im zeitlosen Universum liegen alle möglichen Welten in vollkommener Gleichzeitigkeit nebeneinander: Wohin innerhalb dieses unendlichen Möglichkeitsraums unser Geist wandert und was er davon als Präsens erlebt, wird beeinflusst von einer nebelähnlichen Qualität, die über dem Konfigurationsraum liegt." (S.52)

Raphaela Edelbauers Erzählung ist zweifelsfrei semi-fiktiv, in der Sprache poetisch, in der Wortwahl zugleich stets konkret genug, um die Phantasie des Lesers zu beflügeln. Ich danke für das tolle Literaturerlebnis. Unbedingte Leseempfehlung!