Kindheit 6.7 - Sachbuch und "Thriller" in einem

Kindheit 6.7 - Sachbuch und "Thriller" in einem

Buchcover zu "Kindheit 6.7"
Quelle: michael-hueter.org

Kindheit 6.7 ist ein Sachbuch, liest sich aber durchwegs wie ein „Thriller“, dessen zunächst parallele Erzählstränge sich wie von selbst im Laufe der Lektüre zu einem harmonischen, jedoch nicht minder kontroversiellen Ganzen fügen. Dabei setzten sich offensichtlich nicht nur für den Autor - sondern fügen sich auch für den Leser – die faktischen Puzzlesteine im Lauf des Buches zusammen.

Michael Hüter nimmt den interessierten Leser zunächst auf eine Zeitreise in und durch die historische evolutionäre und soziale Entwicklung des Mensch-Seins mit. Mit narrativem Talent und quellengestützter Akribie schafft es der Autor (und Musiker), schrittweise – chronologisch-historisch wie auch zeitkritisch-aufdeckend – zum vernetzten Themenkomplex Familie und Kindheit als erstrebenswertem, wieder einzurichtendem „Gegenpol“ (zur nicht nur gegenwärtigen - „Bildungs“- Politik) hinzuführen.

Behutsam baut er – zunächst auf einem historischen Abriß der Staats-, Herrschafts-, Gesellschafts- und Kulturentwicklung – seine Erzählung auf und schafft es, bereits nach wenigen Seiten die Aufmerksamkeit des Lesers zu fesseln. „Kindheit“ und „Schülerjahre“ sind dabei historische Phänomene und kulturelle Konstrukte, die es bis vor wenigen hundert Jahren schlicht und ergreifend nicht gab, solange sich Könige, die Kirche und der Staat nicht in das Privatleben der „Untertanen“ einmischten.

Beziehung statt Erziehung
Bis in die ausgehende Renaissance hinein war der junge Mensch zwar jung in Jahren, wurde aber aus diesem Grund nicht willkürlich von (Groß-)Familie, Gesellschaft und Gemeinschaft separiert, sondern war Teil des Alltags- und Soziallebens eines großflächig durchmischten gesellschaftlichen Konglomerats, nicht zuletzt deshalb, weil es weitgehend noch kein Standesdenken zu dieser Zeit gab. Kinder und heranwachsende Jugendliche nahmen freiwillig an Kursen in den Domschulen des Mittelalters, an Angeboten „aus der Praxis“ etwa in Schreibstuben, oder, gleichfalls im 16. und 17. Jahrhundert am Unterricht in eigens eingerichteten Akademien teil. Dabei lauschten – wißbegierig und gebannt – 10- bis weit über 20-jährige Schüler gemeinsam den Ausführungen des Lehrmeisters.

Ebenso ein Phänomen der Neuzeit ist der politisch motivierte Ansatz und zugleich medial verbreitete Irrglaube, Kinder erziehen zu müssen. Aus Angst, ja nichts unversucht und unberührt zu lassen, wird – im Geiste und in Nachfolge der Klosterschulen des 19. Jahrhunderts – zwar vielerorts nicht mehr mit körperlicher Gewalt versucht, die (angebliche) Rohheit und Unwilligkeit des Kindes ihm physisch auszutreiben und es zu unterrichten. Vielmehr hat sich der Aspekt der „Formung“ und „Normierung“ auf eine psychische wie eine institutionelle Meta-Ebene verlagert, es wird also – in weiten Teilen unsichtbar – mittels Frühförderung, später dann aber auch mentaler Repression (systemhörige Lehrpersonen) und über Leistungsdruck (insbesondere in Regelschulen) immer früher, länger und auch umfassender versucht, die Kinder zu funktionierenden Elementen des herrschenden Systems heranzubilden.
Dabei steht die „Norm“ im Vordergrund, sei es bei Leistungstests (PISA und Zentralmatura) oder im spielerischen Bewegungsdrang (Beruhigungsmittel statt ADHS). Die „Schulung“ in Konkurrenzdenken und Unterordnung (durch Ganztagesschule und Weisungen der Lehrperson) steht zweifellos an oberster Stelle.

Der willfährige Mensch als Systemobjekt
Generell kann gesagt werden, daß es – neben einem gleichmachenden, nivellierenden Zugang für unterschiedliche Individuen – Kinder(!) – um eine Verhinderung des kreativen Auslebens der Jungen, unvoreingenommenen menschlichen Wesen geht. Da sich das System selbst (zwangsläufig) reproduzieren will, sind individuelle Ansichten und persönliches Hinterfragen generell unerwünscht.

Seit dem immer „Mehr“ und „Früher“ an „Bildung“ (Schule), Pädagogik (Belehrung/Unterrichten) und frühkindlicher Fremdbetreuung, haben wir auch immer weniger Kinder. Wir sind eine durch Maßlosigkeit erschöpfte Kultur, die (auch noch als Antwort darauf) in ebenso maßloser Ideologisierung nicht mehr fähig und willig ist, für den eigenen Nachwuchs – in jeder Hinsicht – ausreichend und artgerecht zu sorgen. (S. 343)

In Folge wird von politisch-ökonomischer Seite v.a. in den deutschsprachigen Ländern (im Gegensatz etwa zum Norden Europas) die Familie, ihre natürliche Kompetenz und Gemeinschaft immer weiter ausgebootet: Eltern sollen möglichst früh und möglichst lange im Erwerbsarbeitsprozess sein, Kinder werden daher immer früher und länger (sowohl tageszeitlich als auch im Hinblick auf die Gesamtdauer in Jahren) fremdbetreut („Weggabemodus“). Die Hospitalisierung des Kindes setzt also bereits zu Beginn seines Lebens ein. Seine (in den allermeisten Fällen komplikationslose) natürliche Geburt zu Hause, die eigentlich selbstverständlich sein sollte, wird – durch oftmals unbegründete Verunsicherung der Mütter – zur „Krankheit“ hochstilisiert. (Die Mütter sollen stattdessen in Krankenhäusern gebären, Kaiserschnitte werden nicht zuletzt defacto besser finanziell honoriert denn natürliche Geburten.)
 

Schafft sich die Menschheit selbst ab?
Parallel dazu werden – insbesondere in der westlichen Welt – immer weniger Kinder geboren, und (die Förderung ethnischer und interkontinentaler) Migrationsbewegungen als „Lösung“ für den quantitativen Bevölkerungsschwund präsentiert. In weiterer Folge entpuppt sich (grenzenlose) Migration jedoch lediglich als Hinauszögerung der Überalterung der Gesellschaft und trägt – als politische „Antwort“ auf die Ursache – die von Wirtschaft und Politik immer weitreichender betriebene Kinderfeindlichkeit – keinen Deut zur Gegensteuerung bei.

Es sind im Wesentlichen zwei Haupt-Entwicklungsstränge, die zur Kinderarmut [im doppelten Sinne] hierzulande führen. Der eine war (und ist) die vorrangige Fokussierung auf die Wirtschaft, der andere die Ausprägung und eine Spielart des Feminismus. Der wurde etwa seit der Jahrtausendwende im politischen und medialen Diskurs nun bewusst reduziert: Die erwerbstätige Frau (und Mutter) wurde „geheiligt“, aber nur ideologisch, nicht am Gehaltskonto, und generell die Mutterschaft (also die Mutter, die zuhause bleibt) „verteufelt“. (S. 233)

Es wird von Kinder- und Arbeitskräfteknappheit gesprochen, die zu bekämpfen ist, jedoch geschieht dies mit völlig ungeeigneten Maßnahmen und Mitteln und unter Ausblendung der wahren Ursache. Nämlich des (gesellschafts)politischen totalen Systembankrotts in der westlichen Welt. Eine „totale Pädagogik“ wird uns weder – als Menschheit – vor dem Aussterben und schon gar nicht vor dem derzeitigen Wiedererstarken totalitärer Systeme in Form von Scheindemokratien, wie sie Europa immer häufiger werden, bewahren.


Wertschätzung für Familie als Basis
Mit dem Ausleben-Dürfen von Kindheit zumindest bis zum 2. Zahnen, also bis zum 6./7. Lebensjahr würde laut dem Autor Michael Hüter schon ein wesentlicher Beitrag zu mehr Natürlichkeit, artgerechter Menschlichkeit(!), geleistet. Nur damit kann (wieder) geistig gesunder Entwicklung von Kindern im herausfordernden 21. Jahrhundert Raum gegeben werden. Sie bekämen wieder: mehr Autonomie, Mitspracherecht, Selbstvertrauen, die Gewißheit eines vertrauten Geborgenseins, sicherere Bindung zu ihren Hauptbezugspersonen Mutter UND Vater in einem familialen Lebensumfeld.
Es geht um das Schaffen eines Klimas zur Aufrechterhaltung und zum Ausleben angelegter kindlicher Begabungen und seiner besseren, glückenderen (empathischeren, umsichtigeren, wertschätzenderen) Sozialentwicklung und menschlichen Reife. (Denn Kinder sind auch nur Menschen und lernen in letzter Konsequenz aus persönlicher Erfahrung und durch Spiegeln.)

In der länderübergreifenden Abschaffung der Rechte und Bedürfnisse von Kindern – in der Praxis – reichen sich ad libitum alle die Hand: Kapitalisten, Kommunisten, religiöse Gruppierungen, Feministinnen, „Links“, „Grün“, „Mitte“ und „Rechts“, die Justiz, Politik und Wissenschaft. (S. 322)

Nichts ist willkürlicher und artfremder, als Kinder in Schulen nach Gleichaltrigkeit zu „klassifizieren“ und diese den ganzen lieben Tag lang vom wirklichen Leben (dem Alltag in einer dörflichen oder urbanen Gemeinschaft) fernzuhalten. Der „Lehrplan“ vieler Institutionen mit der Bezeichnung „Regelschule“ dient also nur vordergründig einem Bildungszweck. In Wahrheit sollen einzelne Lehrkräfte vor einer großen Gruppe von Kindern und Jugendlichen stundenlang ein systemdiktiertes Erziehungsprogramm durchführen. An die Stelle von Ohrfeige und Rute sind Ziffernnoten und – verbale wie zwischenmenschlich sichtbare – Werturteile und Etikettierungen getreten. Dabei – auch das wird vom Autor mehrfach erwähnt (inkl. Quellennachweisen) – war in Zeiten vor der Einführung von Schulpflicht, der Bildungsstand und v.a. Alphabetisierungsgrad – und damit wohl auch die informationelle Selbständigkeit, etwa in den Handwerksständen des 16./17. Jahrhunderts wie auch im beginnenden 19. Jahrhundert (vor der industriellen Revolution) größer als danach.


Rahmenbedingungen für artgerechte Kindheit und menschliche Potentialentfaltung
Der Autor bringt die Notwendigkeit gesellschafts- und bildungspolitischer Weichenstellungen auf den Punkt.

Der gegenwärtige physische und psychische Befund unserer Kinder ist die erste stumme Revolution in der Geschichte der Menschheit (S. 303)

Der Kindheitsforscher und Historiker formuliert in und mit seinem Buch Kindheit 6.7 den mehr als klarsichtigen, konkreten (und für viele sogenannte „Entscheidungsträger“ wohl unangenehmen) Appell, als Sapiens-Eltern für die Rechte und Bedürfnisse von Familie und unbeeinträchtigter Kindheit aufzustehen. Er betont mehrfach, und dem kann sich der Verfasser dieser Rezension nur vollinhaltlich anschließen: Was Kinder nämlich wirklich – und vor allem brauchen – ist eine vorwiegend familiale Sozialisation innerhalb der (Mehrkind-)Familie – inmitten von Gesellschaft und heterogener Gemeinschaft. Vater UND Mutter als wertschätzende, liebende, orientierungsgebende Begleiter.

Michael Hüter unterstreicht dies nicht zuletzt mit zahlreichen, höchst interessant zu lesenden Lebens- und Wirkungsgeschichten berühmter Persönlichkeiten, quer durch die Jahrhunderte.

So erfährt der Leser etwa einiges Wissenswertes über die lange und wertschätzende familiale Sozialisation eines Leonardo da Vinci, eines Johann Wolfgang von Goethe, eines Karl Marx und vielen mehr. Und weiters, dass viele sogenannte „breakthrough innovations“ – wie im 20. Jahrhundert das Internet – auf wesentliche Beiträge un- bzw. alternativ-beschulter Persönlichkeiten zurückgehen, deren Erfindungsgeist, Vorstellungsvermögen und kooperative Zusammenarbeit.

Das Werk beinhaltet weiters (auch historische) Abbildungen, ein umfassendes Quellenverzeichnis sowie Interviews. Es war mir als dreifacher Vater die Lektüre von Kindheit 6.7 eine Freude, auch wenn ich hier „nur“ auf ein paar Aspekte und Erzählstränge des Buches eingegangen bin. Diese Rezension daher nicht als vollständige Buchbeschreibung verstehen. Kindheit 6.7 hat den seit sehr langem umfassendsten Blick auf Kindheit und die tiefe Entfremdung des „modernen“ Menschen von seinen eigenen kindheitsgeschichtlichen Ursprüngen. – „Aufklärend“, mutig, inspirierend und vor allem flüssig und wirklich gut geschrieben. Absolut empfehlenswert auch für „Kinderlose“!