Ausgespäht und abgespeichert

Ausgespäht und abgespeichert

Anne-Catherine Simon & Thomas Simon (2008): Ausgespäht und abgespeichert. Warum uns die totale Kontrolle droht, und was wir dagegen tun können. ISBN: 978-3-7766-2572-1

Vor einigen Jahren fiel mir dieses äußerst interessant, wenn auch definitiv erschreckend nüchtern geschriebene Buch von Thomas und Anne-Catherine Simon zum Thema Datenmißbrauch und Eindringen in die Privatsphäre in die Hände, welches die aktuelle technische und politische Situation zum Stand Juni 2008 schildert. Es werden Beispiele aus aller Welt gebracht, die auf mannigfache Weise darlegen, wie gläsern denn nun der einzelne Bürger derzeit schon geworden ist.

George Orwells Buch 1984 hat sich insbesondere im angelsächsischen Raum bereits weitgehend bewahrheitet. So werden Staaten in aller Welt von rechtsstaatlichen Systemen in ein präventiv-überwachendes Systeme, und zwar mit einer minutiiösen Systematik. Diese nimmt - seit Herbst 2001 zusätzlich angetrieben um die Komponente Terrorismusbekämpfung - immer mehr Freiraum ein, und steht oft im krassen Gegensatz zu - noch?- gesetzlich verankerten Grundrechten.

Daß Gewalt sich insgesamt von überwachten Plätzen verlagert, und Methoden der Überwachung die Entwicklung von Gegenmitteln zur Folge haben, scheint den wenigsten Regierungen und Regimes einzuleuchten. Zu gerne werden kurzsichtig-oberflächliche Argumente eines angeblich gesteigerten Sicherheitsgefühls der Bevölkerung als Vorwand angeführt, um den wahren Zweck der totalen Kontrolle zu vertuschen. Hunderttausende von Kameras scheinen mir ebenso unberechtigt zu sein, wie auch Privatsherrifs oder Lynch-Justiz, wie etwa das öffentlich an den Pranger stellen von persönlich unliebsam gewordenen Mitmenschen.

Eine schier unglaubliche Faszination - und diese scheint fast exponentiell zu wachsen - geht von der totalen Herkunfts-, Gesundheits- und Verhaltenskontolle aus, deren globale Datenbasis sich v.a. durch Digitalisierung und Vernetzung von Bürgerdaten ergibt. Vorangetrieben wird das ganze selbstverständlich nicht nur von Seiten öffentlicher Einrichtungen sondern auch von der Wirtschaft und nicht zuletzt von Google. Die Suchmaschine Google ist - entgegen dem anfänglichen Enthusiasmus betr. die Qualität der Trefferlisten, als Google noch eine "reine" Suchmaschine - leider immer mehr zu einer viel-zitierten "Datenkrake" geworden, mit einer Wißbegierde, die bis in höchste private Bereiche vordringt (Stchwort "elektronische Krankenakte").

Bei dieser Gelegenheit fallen einem auch die zahlreichen Beispiele von RFID-Chip-Implementierungen en, die Simon und Simon in ihrem Buch erwähnen. Hielt ich persönlich den englischen Professor Kevin Warwick noch für einen technologisch-geblendeten "Spinner" , so wird man doch äußerst nachdenklich wenn man das entsprechende Kapitel über drahtlos auslesbare Mikrochips liest.

Insgesamt rate ich die Lektüre dieses Buches ziemlich dringend jedermann und jederfrau an, die als medienkritischer Konsument unterwegs ist, denn einmal mehr bestätigt sich, daß zumindest eine gesunde Portion "gesunden" Mißtrauens auf individueller Ebene nötig ist, um nicht unwissend in die ein oder andere Datenfalle einer - wie man es nennen könnte - Telespionage zu tappen, und dann als immer weitreichend vernetzter Datenpunkt über Jahrzehnte hinweg "präventiv" observiert werden zu können.

Was das Thema der präventiven Überwachung angeht: In den USA werden in größerem Rahmen sogenannte UAVs und MAVs getestet: dies sind sog. unnamed bzw. micro-aireal vehicles - Minidrohnen - die tlw. aus weiterer Entfernung durch die raffinierte technische Nachbildung mit einem Mauersegler zu verwechseln und bei ihrem Flug faktisch geräuschlos sind.

Datenspeicher DNA: Als Basespaare kodiert, sollen mittels Gentechnik künftig Lebewesen zu Datenspeichern werden, und damit Botschaften über Millionen von Jahren bewahrt werden können. Das wäre dann eine Form bionisch-digitaler Langzeitarchivierung; klingt dies zunächst interessant, so erscheint es in weiterer Folge erschreckend. Durch diese Miniatur-"Bio-Datenträger" ließen sich Informationen weltweit ubiquitär und permanent speichern. Durch Kontollsummen, die "Datenfehler" durch genetische Mutationen aufspüren lassen, wäre dieses Ziel erreicht (vgl. S. 144f.).

Daß soziale online-Netzwerke im Bereich der Personenüberwachung eine ausgiebige Quelle darstellen, sollte bereits hinlänglich bekannt sein. Datenspion Gmail: mit seinem freien E-Mail-Dienst "Google Mail" hat Google Inc. ein online-Werkzeug enormen Ausmaßes bereitgestellt, daß nicht nur den Benutzern (faktisch unbegrenzter E-Mail-Speicherplatz) sondern auch Google zum Eigennutzen verhilft. Ein drastischers Beispiel automatischer Datendurchforstung, bei dem die privaten Datenbestände dann - ohne bewußtes Wissen oder Einwilligung - völlig transparent werden - ist die Google Desktop-Suche (vgl. S. 160f.).

Als einen letzten Themenkreis möchte ich noch die Speicherung von personenspezifischen physiologischen Merkmalen wie z.B. Iris oder FIngerabdruck) hervorheben, wie sie von Simon & Simon 2008 beschrieben wird. In ihrem Buch schreiben sie auf S. 208: "Der größte Hemmschuh für die Einführung von Biometrie in Geschäften sind derzeit noch die Kunden, viele empfinden solche Methoden als Zumutung und den Fingerabdruck schlechthin als Symbol von Kriminalisierung." [so auch d. Verf. d. der Rezension]. Anmerkung des Rezensenten: Großbritannien entpuppt sich im Verlauf des Buches als das eigentliche "Vorreiter-Musterland" eines Unmengen an Datenbeständen/-strömen sammelnden präventiv-operierenden Überwachungsstaates: Seit 2007 werden an britischen Schulen - wohlgemerkt ohne die Zustimmung der Eltern - Gesichtsform, Netzhaut und Maße der Hände erfaßt, ebenso sollen zu diesem Zeitpunt an 3500 Schulen bereits Fingerabdruck-Datenbanken eingerichtet gewesen sein. Doch Großbritannien hat mit dem Projekt einer landesweiten DNA-Datenbank, in der bereits 2008 über vier Millionen Datensätze gespeichert waren, in Kombinationen mit der einer nationalen Identitätskarte noch größere Bürger-Registrierungspläne: 50 verschiedene Merkmale, darunter alle zehn Fingerabdrücke, Gesichts- und Irismuster. (S. 240). Damit realisiert Großbritannien George Orwells Horror-Vision "1984" ohne allzugroße zeitliche Verspätung. Selbstverständlich wird auch das Thema gechippter Identitätsausweise im vorliegenden Buch ausführlich besprochen (ab S. 213ff.)

Kommentare

Submitted by Rauhracherl Mi, 02.08.2017, 17:10 Uhr

Kevin Warwick, der erste sich selbst als cyborg bezeichnende Wissenschafter, in Fließband-Implementierung quasi, zumindest hier gedanklicher "Taufpate"

NZZ-Artikel (31.07.2017): Lieber verschlossene Türen als ein Chip-Mensch